Hier in Tokyo ist Zugfahren eine eigene Wissenschaft für sich. Nach mehr als 12 Monaten in Japan bin ich auf dem Gebiet zwar immer noch ein Amateur, trotzdem möchte ich meine Gedanken und Überlegungen zu Taktiken für ein möglichst angenehmes Zugfahren präsentieren:
Strategie 1: Resignation
Hier lautet das Motto: Einfach rein in den Zug und sich irgendwo in der Nähe der Türen hinstellen. Zu Zeiten der Rush-Hour (zwischen 7 und 9 Uhr und 17 und 19 Uhr) ist wohl ausschließlich diese Strategie möglich, da man schon froh ist, wenn man überhaupt noch in den Zug reinpasst. Viel Wahl, wo man stehen möchte, hat man nicht, und an einen Sitzplatz braucht man erst gar nicht zu denken.
Strategie 2: Unbedrängte Resignation
Ähnlich Stategie 1, doch hier bleibt man nicht bei den Türen stehen, sondern stellt sich in den Gang zwischen den Sitzplätzen. So hat man den Vorteil, dass man nicht so stark bedrängt wird. Denn in vollen Zügen bildet sich meistens ein Menschenklumpen bei den Türen, wohingegen die Gänge halbwegs frei blieben (lies: ca. 5 cm Platz um einen herum). Diese Strategie eignet sich jedoch nicht für kurze Strecken, da man sich sonst durch die Menschenmenge wieder nach draußen kämpfen muss. Wer schonmal einen Elefanten in seiner zwei Quadratmeter Vorratskammer hatte und dann an das hinterste Regal musste, weiß wovon ich rede.
Strategie 3: Hoffnungsschimmer
Für diese Strategie sollte ich erstmal den Aufbau einer japanischen Bahn erklären: Anders als man es sich vielleicht vorstellt zeigen die Sitze (zumindest bei den Bahnen in Tokyo) zur Innenseite des Zuges, ähnlich den deutschen Fahrradwaggons mit den aufklappbaren Sitzen.
Für Strategie Nummer drei stellt man sich also direkt vor eine sitzende Person und hofft darauf, dass sie vor einem selbst den Zug verlässt und man sich dann setzen kann. Das funktioniert natürlich nur, falls man keine rabiate japanische Oma neben sich stehen hat, die sich, bevor man überhaupt reagieren kann, geschwind unter den noch im Prozess des Aufstehens befindenden Fahrgast schiebt und einem somit den letzten Hoffnungschimmer auf eine faire Welt eiskalt auslöscht.
Oder was mir auch schon passiert ist, dass der aufstehende Fahrgast mich abblockt, obwohl ich direkt vor ihm stand, um einer älteren Dame anzudeuten, dass sie sich auf seinen Platz setzen könne. Als ob ich nicht die Höflichkeit besäße, rabiaten japanischen Omas meinen Sitzplatz, auf den ich schon seit zwanzig Minuten warte, abzugeben. Also sowas!
Strategie 4: Stehen für Faule
Sofern frei, kann man sich auch an eine der Wände des Zuges lehnen, meist in der Nähe der Türen. Das ist zwar nicht ganz so angenehm wie Sitzen, beansprucht allerdings weniger Muskeln als normales Stehen, wo man jede Geschwindigkeits- oder Richtungsveränderung abfedern muss. Beachten sollte man jedoch, dass man die Möglichkeit auf einen Sitzplatz an eine der Strategie 3 benutzenden Personen abgibt. Zudem kann es unangenehm werden, wenn der Zug sehr voll ist, da sich – wie bereits geschrieben – im Bereich der Türen die meisten Menschen anstauen.
Strategie 5: Der Sechser im Lotto
Es ist eigentlich einfach im Zug zu sitzen. Zumindest wenn man morgens aus Tokyo heraus oder abends nach Tokyo hinein fährt, also genau in die andere Richtung wie zehn Millionen Japaner. Das ist jedoch wahrscheinlich unwahrscheinlich.
In der realistischeren Gegebenheit, dass man mit den zehn Millionen Japanern in die gleiche Richtung fahren muss, gibt es zwei verschiedene Situationen:
Fährt man von dem Bahnhof los, an dem der Zug beginnt (wenn man zum Beispiel dort wohnt), kann man sich in einer Zweier- oder Dreierreihe anstellen. Sobald der Zug kommt und die Türen aufgehen spielt man eine Art „Reise nach Jerusalem„. Personen die regelmäßig auf Kindergeburtstage gegangen sind haben hier ganz klare Vorteile. Manchmal ist aber schon absehbar, dass man keine Chance mehr auf einen Sitzplatz bekommt. In diesem Fall stellt man sich einfach neben die erste Menschenreihe und wartet auf den darauffolgenden Zug. Bei einer Frequenz von einem Zug alle fünf Minuten sicherlich eine verständliche Strategie. Das meiste, was ich bis jetzt erlebt hatte, waren drei Reihen, nämlich eine für den nächsten, eine für den übernächsten und eine für den über-übernächsten Zug.
In der zweiten Situation hat man nicht das Glück, von einem Anfangsbahnhof aus abfahren zu können (so wie ich bei meinem jetzigen Aufenthalt). Zu Stoßzeiten ist dann ein Sitzplatz auf Anhieb wie ein Sechser im Lotto. Meistens setze ich auf Strategie 3, sofern möglich.
Den Nachteil eines Sitzplatzes möchte ich dann aber auch nicht verschweigen: Einschlafende Japaner. Diese durchaus nicht seltene Spezies schafft es mit 99 prozentiger Trefferwahrscheinlichkeit in meine Richtung einzunicken. Ihr Kopf sinkt dann kontinuierlich immer weiter ab, bis er auf meiner Schulter liegt. Strategien dagegen stelle ich dann das nächste Mal vor 😉 . Eine wirklich effiziente habe ich jedoch leider noch nicht gefunden. Eine kleine Abhilfe schafft Strategie 6:
Strategie 6: Sechser im Lotto mit Zusatzzahl
Heiß begehrt und selbst zu fahrgastarmen Zeiten schwer zu bekommen sind die Randplätze. Die Chance, eine unangenehme Person neben sich sitzen zu haben, reduziert sich hierbei immerhin um 50 Prozent! Zudem spart man beim Aussteigen geschätzte fünf Sekunden gegenüber den Mittelplätzen. Wer will da nicht am Rand sitzen?! Tatsächlich sind die Plätze so beliebt, dass im Falle des Freiwerdens die Leute neben den Randplätzen auf diese aufrutschen und somit die ganze Strategieplanung durcheinander bringen. Falls man also tatsächlich mal solch einen Platz erbeutet, würde ich vorschlagen über das eigentliche Ziel hinauszufahren und einfach nur den Sitzplatz zu genießen. Solch eine Chance kommt nicht so schnell wieder!
Ich hoffe ich konnte euch mit diesem Ratgeber etwas helfen um das Bahnfahren in Tokyo so angenehm wie möglich zu gestalten. 😉